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Ronald Lötzsch

Ethnonyme und Staatsbürgerbezeichnungen im Deutschen, Russischen und Esperanto

Resumo

Etnonimoj kaj nomoj de ×tatanoj en la germana, rusa kaj en Esperanto

En _iuj etnolingvoj ekzistas nomoj de popoloj, t.n. etnonimoj. Sed nur malmultaj posedas strukturajn rimedojn por derivado de nomoj de ×tatanoj, konsistantoj el unu vorto. Tiamaniere en la rusa lingvo ekzemple oni distingas inter la etnonimo russkie `rusoj' kaj rossijane `×tatanoj de Rusio / de la Rusia Federacio, rusianoj' . En la germana lingvo estas diferencigeblaj la etnonimo Deutsche kaj la nomo de ×tatanoj de (la Federacia Respubliko) Germanio Deutschländer. Per _eneraligo de la derivadmodelo rusoj Y Rusio Y rusianoj aß germanoj Y Germanio Y germanianoj en Esperanto tia diferencigo estus ebla por _iuj ×tatoj.

Abstract

Ethnonyms and Names of Citizens in German, Russian and Esperanto

In all ethnic languages there are names of peoples, so called ethnonyms. But only few have structural means for deriving names of citizens, consisting of one word. Thus in Russian for example there is a difference between russkie `members of the Russian people' and rossijane `citizens of Russia / of the Russian Federation'. In German one could distinguish between the ethnonym Deutsche `members of the German people' and Deutschländer `citizens of Germany'. By generalizing the models of derivation rusoj Y Rusio Y rusianoj or germanoj Y Germanio Y germanianoj in Esperanto such a differentiation would be applicable to all states.

In den Ethnosprachen, vielleicht nicht in allen, besteht die Tendenz, die gesellschaftlich wichtigsten Begriffe mit Einwortlexemen1 zu bezeichnen und Umschreibungen zu vermeiden. Dies gilt nicht zuletzt für Völkernamen, so genannte Ethnonyme. Deren Herkunft kann in Abhängigkeit von den konkreten Bedingungen der Ethnogenese unterschiedlich sein.

Ist ein heute noch existierendes Ethnos aus dem Zusammenschluß sprachlich verwandter Stämme zu einem Stammesverband und dessen weiterer Integration innerhalb eines gemeinsamen Staates hervorgegangen, wird häufig der Name des bei der Integration dominierenden Stammes auf alle Angehörigen des entstehenden neuen Ethnos übertragen. Beispiele für diesen Typ von Ethnonymen sind die Namen der germanischsprachigen Dänen (dänisch dansker, Singular danske) und Schweden (schwedisch svensker, Singular svensk) sowie der slawischsprachigen Polen (polnisch Polacy, Singular Polak), Tschechen (tschechisch ,,eši, Singular ,,ech), Kroaten (kroatisch Hrvati, Singular Hrvat) und Serben (serbisch Srb, Singular Srbin).

Wenn Angehörige eines fremden Ethnos in der Anfangsphase vorübergehend den Prozeß der Bildung und Stabilisierung eines Staates und der damit verbundenen Ethnogenese dominierten, konnte als markantestes bleibendes Zeugnis ihrer einstigen Herrschaft ihr Ethnonym zum Namen des neuentstandenen Ethnos werden, während sie ethnisch völlig in den Beherrschten aufgingen. Beispiele hierfür sind die ebenfalls slawischsprachigen Russen und Bulgaren sowie die romanischsprachigen Franzosen.

Die slawischen Vorfahren der heutigen Russen, Ukrainer und Belorussen waren im 9. Jahrhundert von aus Schweden stammenden nordgermanisch sprechenden Wikingern, den so genannten Warägern, unterworfen worden, hatten diese Oberschicht aber innerhalb des gemeinsamen Staates, der Kiewer Rus', binnen weniger Generationen assimiliert. Der Staatsname geht zurück auf den Namen, den die Eroberer von den ebenfalls von ihnen heimgesuchten Ostseefinnen erhalten hatten, zu denen sie über den Finnischen Meerbusen gerudert kamen. Das aus dem Altnordischen entlehnte und mit deutschem Ruder verwandte Wort lautete ursprünglich rÇtsi und bedeutete `Rudermannschaft'. Finnisch und Estnisch haben es in der Gestalt Ruotsi bzw. Rootsi mit der Bedeutung `Schweden' bis zum heutigen Tage bewahrt.2 Die so Genannten hatten es wahrscheinlich bereits als Eigenbezeichnung übernommen, als sie zuerst in Nowgorod und dann in Kiew die Macht an sich rissen.3 Rus' begann nunmehr auch den von ihnen beherrschten Staat und schließlich außerdem die Gesamtheit dessen slawischer bzw. slawisierter Bewohner zu bezeichnen.4

Die slawischen Stämme, die sich am Ende des 6. Jh. in Thrakien niedergelassen hatten, wurden 675 von aus den Schwarzmeersteppen eingewanderten turksprachigen Nomaden, den sog. Protobulgaren, unterworfen. Das slawische Ethnos, das sich dann im gemeinsamen Staat entwickelte, übernahm das Ethnonym (im heutigen Bulgarischen bylgari, Singular bylgarin) der Eroberer, die ethnisch in der Bevölkerungsmehrheit aufgingen.

Die Franken, die sich nach der Eroberung Galliens in dessen nördlichem Teil angesiedelt hatten, unterlagen wie die Normannen in der Kiewer Rus' oder die Protobulgaren in Thrakien innerhalb weniger Generationen der Assimilierung, hier durch eine romanischsprachige Bevölkerungsmehrheit. Diese übernahm jedoch die latinisierten Formen der fränkischen Bezeichnungen für das Land (franz. France aus Francia) und dessen Bewohner (Français aus franciscus).

In anderen Fällen gerieten Bevölkerungsgruppen für viele Jahrhunderte unter die Ägide eines fremden Staates, ohne sich von dessen Mehrheitsbevölkerung assimilieren zu lassen. Auch unter solchen Bedingungen konnte es zur Bildung besonderer Ethnien kommen. Im Bereich der Slavia trifft dies auf Slowaken, Slowenen und Sorben5 zu. Bei den Slowaken war es die fast tausendjährige Zugehörigkeit zum ungarischen Staat, die sie von den übrigen Slawen isolierte. Slowenen und Sorben waren über einen ebenso langen Zeitraum Untertanen des Deutschen Reiches, letztere außerdem etwa drei Jahrhunderte lang des ebenfalls zu diesem Staat gehörenden Königreiches Böhmen. Als Ethnonym bewahrten Slowaken (slowakisch Slováci, Singular Slovák) und Slowenen (slowenisch Slovenci, Singular Slovenec) eine modifizierte Form des ursprünglich allen Slawen gemeinsamen Namens (slov_ne, Singular slov_ninß). Das der Sorben (je nach Dialekt Serbja oder Serby, Singular einheitlich Serb) geht auf den gleichen Stammesnamen zurück wie das der Serben (Srbi, Singular Srbin).

Das Ethnonym Deutsche stellt die Substantivierung eines Adjektivs dar, das ursprünglich `germanisch' bedeutete und im vielsprachigen Frankenreich insbesondere zur Bezeichnung der dort gesprochenen westgermanischen Idiome und ihrer Sprecher verwendet wurde. Als das Reich nach Karls des Großen Tod geteilt wurde, bildeten die Germanischsprachigen im Ostreich die Bevölkerungsmehrheit und entwickelten sich in einem gegen die Jahrtausendwende abgeschlossenen Integrationsprozeß zur mittelalterlichen deutschen Völkerschaft.

Wie bei Slowaken und Slowenen wurde auch hier ein Wortstamm, der ursprünglich eine weitere Bedeutung hatte, nämlich die der älteren ethnischen Identität, der slawischen bzw. der germanischen, eingeengt auf die Bezeichnung der Zugehörigkeit zu einem neu entstandenen Ethnos.6

Ein neues Ethnos kann auch durch Abspaltung von einem älteren entsehen. Die Ursache hierfür ist geographische oder politische Isolierung. Erstere wird durch Migration bewirkt, letztere durch den meist gewaltsamen Anschluß an einen anderen Staat. In solchen Fällen ist das neue Ethnonym oft eine Ableitung vom Landesnamen, der - nicht selten mit jahrhundertelanger Verspätung - auch zur Staatsbezeichnung werden kann. Beispiele für eine solche Ethnogenese und die Entstehung entsprechender Ethnonyme liefern die germanischsprachigen Isländer und Niederländer sowie die slawischsprachigen Ukrainer und Makedonier.

Das in allen nordgermanischen Sprachen vorhandene Lexem islending `Isländer' war ursprünglich zweifellos lediglich ein Bewohnername, der jene "Nordmänner" bezeichnete, die sich auf dieser bis dahin menschenleeren fernen "Eisinsel" angesiedelt hatten. Als sich bei ihnen eine eigene Identität, das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einem eigenständigen Ethnos herausgebildet hatte, wurde islending zum Ethnonym.

Als sich die Bewohner der Niederlande, die im Mittelalter als Untertanen des Deutschen Reiches auch zum deutschen Ethnos gehört hatten, worauf noch heute die englische Bezeichnung Dutch hindeutet, nach der im Westfälischen Frieden sanktionierten Trennung vom Reich zu einer eigenständigen Nation entwickelt hatten, nahm der Bewohnername Nederlanders den Charakter eines Ethnonyms an.

Die zentrale Ukraine mit der Hauptstadt Kiew war einst das Kerngebiet des altrussischen Staates. Als dieser im 13. Jh. durch den Mongoleneinfall geschwächt und von den Eindringlingen teilweise tributpflichtig gemacht worden war, eroberte das Großfürstentum Litauen den Westen der Kiewer Rus'. In dem Maße, wie sich der Nordosten mit dem Zentrum Moskau wieder vom Mongolenjoch befreite, wurde das nach der Union Litauens mit Polen dessen Verwaltung unterstellte einstige Zentrum zur Ukrajina, zum Randgebiet, seine zur orthodoxen Kirche gehörigen Bewohner, von den Moskovitern auch "Kleinrussen" genannt, zu ukrajinci (Singular ukrajinec').7

Die heutigen slawischen Makedonier gehörten bis in die Neuzeit zum bulgarischen Ethnos. Noch in den 60er Jahren des 19. Jh. kämpften sie zusammen mit allen Bulgaren gegen die Vorherrschaft des mit der Pforte liierten griechischen Klerus für eine gemeinsame slawische Kirchenorganisation, für die Anerkennung des Slawischen als Kirchen- und Schulsprache. Während jedoch Nordostbulgarien 1878 auf dem Berliner Kongreß als autonomes Fürstentum anerkannt wurde und Südostbulgarien wenigstens einen christlichen Gouverneur erhielt, mußten sich die Makedonier durch das Diktat der Großmächte wieder der unmittelbaren türkischen Herrschaft unterwerfen. Als 1912 im ersten Balkankrieg auch ihr Land vom Türkenjoch befreit wurde, hatte sich bereits ein makedonischer "Separatismus" artikuliert.8 Am Ende entwickelte sich innerhalb des von Serbien eroberten Landesteiles eine eigenständige makedonische Nation.9 Daß sich deren Angehörige als Makedonci (Singular Makedonec) bezeichnen, führt noch heute zu Verstimmung bei Griechen, die diesen Namen Angehörigen der eigenen Nationalität vorbehalten sehen möchten.

Bei den bisher behandelten Ethnonymen handelt es sich um Eigenbezeichnungen, und die deutschen Äquivalente machen deutlich, daß sie von den gleichen, phonetisch adaptierten, Stämmen oder Wurzeln abgeleitet sind. Das dürfte einer allgemeinen Tendenz entsprechen, zumindest, wenn von größeren, eigene Staaten besitzenden bzw. dominierenden Völkern die Rede ist.

Obligatorisch ist es nicht, wie von den hier angeführten Ethnonymen die englische Bezeichnung der Niederländer zeigt. Sie ist identisch mit Deutsche, während die Deutschen im Englischen bekanntlich Germans genannt werden.

Man könnte nun anhand noch weiterer Sprachen überprüfen, bis zu welchem Grade sich die hier behauptete Tendenz bestätigt. Aus Platzgründen muß darauf verzichtet werden.

Nur soviel sei festgestellt, daß gerade große Völker von Nachbarn, mit denen sie seit langem enge, auch konfliktreiche Kontakte unterhalten, nicht mit einem von ihrer Eigenbezeichnung abgeleiteten Ethnonym benannt werden. So widerspiegelt der französische Name der Deutschen allemands uralte Beziehungen zwischen den Franken, dem Teil ihrer Vorfahren, von dem die Franzosen den Namen geerbt haben, und den Alemannen, den ersten Opfern merowingischer Expansion.

Daß das von derartigen historischen Komplikationen unbelastete Esperanto in besonders hohem Maße "im Trend liegt" braucht nicht zu verwundern. Natürlich reflektiert es auch den Zustand der Ethnosprachen, die Zamenhof und seinen Nachfolgern als Quelle bei der Schaffung des Esperanto-Wortschatzes dienten, wie folgende alphabetische Aufzählung der Esperanto-Äquivalente der bisher erwähnten Ethnonyme erkennen läßt10: bulgaro, ...e¡o, dano, franco, germano, nederlandano, hungaro, islandano, kroato, makedono/macedono, polo, ruso, serbo, slovako, sloveno, svedo, ukrajnano. Besonders weitgehend ist die Übereinstimmung mit dem Deutschen. In beiden Sprachen handelt es sich bei den Namen von Isländern, Niederländern und Ukrainern um Ableitungen vom Landes- bzw. Staatsnamen. Bemerkenswert sind die unterschiedlichen Erläuterungen im PIV. Die nicht mit dem Suffix -an- abgeleiteten Namen werden als Bezeichnung eines "Ano de la _efgento lo_anta en ~ujo" charakterisiert, z. B. "Bulgar/o. Ano de la _efgento lo_anta en ~ujo", was deutsch sinngemäß mit "Angehöriger des Bulgarien bewohnenden Hauptvolkes" wiederzugeben wäre. Seine ethnonymische Bedeutung ist damit hinreichend bestimmt. Die einzige Ausnahme ist der Artikel "Makedon/o. Macedono", der nur aus diesen beiden Wörtern ohne jede Erläuterung besteht.

Die Entsprechungen der Namen von Isländern, Niederländern und Ukrainern erscheinen demgegenüber als "~ano" mit der Erläuterung "Lo_anto de ~o" unter den Stichwörtern Island/o, Nederland/o, Ukrajn/o. Die Interpretation der Semantik ist irreführend.

Die erstaunlichen Potenzen der Wortbildung einer Plansprache, um deren Beschreibung und Würdigung sich unser Jubilar so außerordentlich verdient gemacht hat11, werden hier ungenügend genutzt.

Nun waren die Ungereimtheiten, die durch die von oft zufälligen und wenig kompetenten Übersetzern vorgenommenen Übertragungen der einzelnen Ethnonyme und Landes- bzw. Staatsnamen aus einer Ethnosprache in die andere entstanden12, nur schwer vermeidbar und lassen sich wohl auch kaum rückgängig machen.

Natürlich sollte auch an einer Plansprache, die sich nach über hundert Jahren einer erfolgreichen Nutzung ebenfalls in vielfacher Hinsicht spontan weiterentwickelt, nicht unnötig herumkorrigiert werden. Der Niedergang und das gegenwärtige Dahinvegetieren des als Reform-Esperanto erdachten Ido spricht Bände.

Warum aber sollte ein so brauchbares Modell wie die Bildung von Ethnonymen und der entsprechenden Landes- bzw. Staatsnamen wie bulgaro ~ Bulgario, polo ~ Polio, franco ~ Francio usw. nicht verallgemeinerbar sein? Ob neben Länder- bzw. Staatsnamen markierendem -i- auch noch das synonyme Suffix -uj- weiter verwendet werden sollte, sei dahingestellt. Ein an den Stamm bzw. die Wurzel des Ethnonyms angefügtes -lando, das von den hier behandelten Stichworten des PIV lediglich Dan/o und Rus/o aufweisen, ist sicher überflüssig.

Die hier aus dem Rahmen fallenden Esperanto-Äquivalente für Island ~ Isländer, Niederlande ~ Niederländer, Ukraine ~ Ukrainer ließen sich m. E. ohne weiteres an das überwiegend verwendete Modell anpassen. Sie könnten also lauten: islando `Isländer' ~ Islandio `Island', nederlando `Niederländer' ~ nederlandio `Niederlande' (im bisherigen Äquivalent wird, im Unterschied zum Deutschen und Russischen, ohnehin der Plural des Originals durch den Singular ersetzt), Ukrajno `Ukrainer' ~ Ukrajnio `Ukraine'.

Während auf diese Weise gewisse Inkonsequenzen hinsichtlich einer systematischeren Bezeichnung von Ethnien und Ländern bzw. Staaten im Esperanto relativ leicht beseitigt werden könnten, stehen einer entsprechenden Systematisierung der Staatsbürgerbezeichungen nicht nur sprachliche Hindernisse im Wege.

Eingangs habe ich behauptet, in der Sprache würden umständliche Umschreibungen für die gesellschaftlich wichtigsten Begriffe möglichst vermieden. Offizielle Bezeichnungen wie citoyen de la France oder gar citoyen de la République Française ebenso wie russisches grañdanin Sovetskogo Sojuza `Bürger der Sowjetunion' bzw. grañdanin Sojuza Sovetskich Socialisti...eskich Respublik `Bürger der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken' hätten danach im Alltagsleben keine Chance. Auch die weniger bombastischen attributiven Verbindungen des Russischen sovjetskij ...elovek `sowjetischer Mensch', sovjetskie ljudi `sowjetische Menschen' wurden als Bestandteil des offiziellen Jargons empfunden und im sowjetischen Alltag kaum gebraucht. Gleiches gilt für die Verwendung der deutschen Entsprechungen im Sprachgebrauch der DDR.13

In den Fällen, in denen ein Staat nur von Angehörigen eines Ethnos bevölkert wird, erledigt sich das Problem von selbst. Das Ethnonym kann gleichzeitig als Staatsbürgerbezeichnung fungieren.

Doch sind solche Staaten seltene Ausnahmen. Wenn man Zwergstaaten wie Liechtenstein, San Marino, Monaco oder Andorra einmal beiseite läßt, haben beispielsweise in Europa lediglich Island, Portugal und Luxemburg innerhalb ihrer Grenzen keine autochthonen nationalen Minderheiten. Ob es außerhalb Europas überhaupt mononationale Staaten gibt, ist fraglich. Und seit nach dem Zweiten Weltkrieg die Massenmigration einsetzte, gibt es in allen Staaten allochthone, in Einzelfällen wie bei den Türken in Deutschland mehrfache Millionenstärke erreichende Minderheiten. Viele von deren Angehörigen sind inzwischen in ihrer neuen Heimat eingebürgert, ohne sich jedoch als ,,Angehörige des Hauptvolkes", als "ano de la _efgento", wie die Verfasser des PIV formulieren, zu betrachten.

Dennoch ist es üblich, die Bürger multinationaler Staaten unabhängig von ihrer tatsächlichen Nationalität mit dem Ethnonym des den Staat dominierenden Ethnos zu bezeichnen. Ein Bürger Frankreichs gilt eben als "Franzose", gleichgültig, ob er in Wahrheit Baske, Bretone, Elsässer, Katalane oder Korse ist. Und er selbst hat auch keine Möglichkeit, sich auf Französisch korrekt zu benennen, weil es die Sprache nicht zuläßt, es sei denn, er verwendet die verpönten Umschreibungen. Außerdem darf er es eigentlich nicht, denn die französische Staatsdoktrin lehnt wie die vieler anderer multinationaler Staaten die Anerkennung nationaler Minderheiten ab.14

Die Bundesrepublik Deutschland erkennt neuerdings nach langem Sträuben vier autochthone nationale Minderheiten an. Es handelt sich um die Sorben, die Schleswiger Dänen, die so genannten "nationalen" Nordfriesen sowie um Sinti und Roma. Eigentlich ist dies verfassungswidrig, denn nach dem Grundgesetz sind alle Bundesbürger "Deutsche".15

Dabei verfügt gerade die deutsche Sprache über Mittel zur terminologischen Unterscheidung von Ethnonymen und Staatsbürgerbezeichnungen. Abgesehen davon, daß sich das erste Wort im zitierten Artikel 116 des Grundgesetzes durch das auf jeden Fall adäquatere Bundesbürger ersetzen läßt, das keinen Bezug auf das deutsche Ethnos enthält, kann man vom Landes- bzw. Staatsnamen Deutschland ohne weiteres als Staatsbürgerbezeichnung Deutschländer ableiten.

Gelegentlich bezeichnen sich in Deutschland lebende Türken in deutsch verfaßten Texten tatsächlich so. Als Vorbild dient türkisches Almanc2, das mit dem Suffix -c2 von aus dem Französischen entlehntem Alman `Deutscher' abgeleitet ist.

Tatsächlich kommt Rußländer in manchen Texten vor. Es bezeichnet einen Bewohner Rußlands, normalerweise einen Staatsbürger der "Russischen Föderation", die deutsch eigentlich Rußländische Föderation heißen müßte, unabhängig von seiner Nationalität. Und etwa 20% dieser Bürger gehören weit über hundert nichtrussischen Nationalitäten an. Die Unterscheidung von Rußländern und Russen, also Angehörigen des russischen Ethnos, entspricht der neuerdings in Rußland nach dem Zerfall der Sowjetunion offiziell obligatorisch gewordenen Unterscheidung zwischen rossijane `Rußländer' (Singular rossijanin) und russkie `Russen' (Singular russkij).16

Andere Beispiele, solcher im Russischen üblicher bzw. üblich gewesener Unterscheidungen, wären finljandcy `Finnländer' (Singular finljandec) ~ finny `Finnen' (Singular finn), latvijcy `Lettländer' (Singular latviec) ~ latyši `Letten' (Singular latyš), kazachstancy `Kasachstaner', Singular kazachstanec) ~ kazachi `Kasachen', Singular kazach). Das letzte Modell ist produktiv und kann auf mehrere auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gelegene Staaten angewandt werden, deren Namen mit -stan gebildet sind.

Die hier verwendeten deutschen Entsprechungen kommen einem zwar anfänglich etwas seltsam vor, doch gewöhnt man sich, wie die Erfahrung mit Rußländer beweist, relativ schnell an solche Neubildungen. Die Unterscheidung muß nur gewollt sein.

Natürlich sind einer Verallgemeinerung in Ethnosprachen meist mehr oder weniger enge Grenzen gesetzt. Die Verwendung des Suffixes -er könnte zwar im Deutschen bei entlehnten Ländernamen auf -stan funktionieren. Doch schon bei solchen mit dem Zweitglied -land stünden dem die bereits angeführten Ethnonyme Isländer, Niederländer entgegen. Wollte man die Bildung eines Staatsbürgernamens Frankreicher riskieren, um die Verwendung von Franzosen auf die Bezeichnung der Angehörigen des französischen Ethnos einzuengen, gäbe es zwar formal das Vorbild Österreicher, doch das ist ein Ethnonym, der Name der deutschsprachigen österreichischen Nation, die sich - wie die makedonische vom bulgarischen - erst im 20. Jh. endgültig vom deutschen Ethnos getrennt hat.

Im Esperanto entfielen alle diese Schwierigkeiten. Vorausgesetzt, es ließe sich das Derivationsmodell durchsetzen:

Ethnonymstamm Y Landes- bzw. Staatsname = Ethnonymstamm + Suffix und Endung -io Y Staatsbürgername = Stamm von Landes- bzw. Staatsnamen + Suffix und Endung -ano.

Beispiel: rusoj `Russen' Y Rusio `Rußland' Y rusianoj `Rußländer'.

Das Suffix -an- sollte auch in den wenigen Fällen Verwendung finden, in denen Namen von Mehrvölkerstaaten auch in Ethnosprachen nicht von Ethnonymen abgeleitet sind bzw. nicht mit solchen derivatorisch korrespondieren.

Im heutigen Europa trifft dies lediglich auf Großbritannien und Belgien zu. Die Staatsbürgerbezeichnung Briten gilt also sowohl für Engländer als auch für Schotten oder Waliser wie Belgier für Wallonen, Flamen, Brusselaars oder Deutschbelgier.

Das Esperanto-Lexem Brito bezeichnet nach PIV einen "civitano de Britujo". Verwiesen wird außerdem auf Anglo, Skoto, Kimro. Als Bezeichnung des Angehörigen eines antiken keltischen Stammes, der nach Brockhaus ebenfalls Brite genannt werden kann, gibt PIV Britono an.

Im Artikel Belg/o werden jedoch zwei Bedeutungen angegeben. Das Stichwort ist nicht nur das Äquivalent zu Belgier, sondern kann auch einen Angehörigen der in den antiken Quellen Belgae genannten altkeltischen Stämme bezeichnen. Bei Verwendung von belgiano in ersterer Bedeutung ließe sich diese Homonymie vermeiden. Und im Interesse der Einheitlichkeit wäre m. E. auch britiano vor brito der Vorzug zu geben.

Es ist nicht auszuschließen, daß es in beiden Ländern auch Einwohner gibt, in erster Linie wohl Nachkommen von Zuwanderern, egal ob eingebürgert oder nicht, bei denen die Zugehörigkeit zum Staatsvolk der jeweiligen Heimat in ihrer nationalen Identität an erster Stelle steht. In solchen Fällen wäre die Verwendung von brito bzw. belgo gerechtfertigt.

Im Esperanto wäre somit der Ausdruck semantischer Nuancen durch unterschiedliche Ableitungen von einem Wortstamm möglich, die in Ethnosprachen nur mittels Umschreibungen ausgedrückt werden könnten.

Nicht korrekt erscheint mir aus dieser Sicht die PIV-Erläuterung zum Stichwort Svis/o "Civitano el Svislando." Da die alteingesessenen Bewohner der Schweiz, ungeachtet der Tatsache, daß sie unterschiedlicher ethnischer Herkunft sind und vier verschiedene Sprachen sprechen, sich als Angehörige einer Nation betrachten17, würde sviso den "ano de la svisa nacio" bezeichnen. Der "civitano" hieße svisiano.

In der inzwischen von der Landkarte verschwundenen "Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien" wurde dieser soziologisch und politisch ungemein wichtige Unterschied sogar bei Volkszählungen berücksichtigt. Bei der Volkszählung von 1979 bekannten sich 1 219 024 Bürger Jugoslawiens zu einer jugoslawischen Nation. Damit hätten 5,4% der nach der hier vorgeschlagenen Unterscheidung im Esperanto als jugoslavianoj zu Bezeichnenden auch jugoslavoj genannt werden können.18

Daß Esperanto unter gewissen Voraussetzungen geeignet sein könnte, die Brisanz einer praktikablen Lösung der Sprachenfrage in der EU zu mildern, wurde schon auf mehreren wissenschaftlichen Veranstaltungen thematisiert. So im September 1993 im Rahmen der Hanns-Seidel-Stiftung im Europäischen Parlament in Brüssel unter maßgeblicher Beteiligung von Detlev Blanke. Oder im Mai 1997 wiederum in Brüssel auf einer Tagung des Forschungszentrums für Mehrsprachigkeit der Katholischen Universität.19

Wie hier zu zeigen versucht wurde, kann Esperanto auch zur Lösung spezieller terminologischer Fragen beitragen, die für die Klärung grundsätzlicher Probleme in den Beziehungen zwischen den Völkern Europas und nicht zuletzt für einen wirksamen Minderheitenschutz keineswegs nebensächlich sind.

Bibliographie

Blanke, Detlev (1981): Plansprache und Nationalsprache. Einige Probleme der Wortbildung des Esperanto und des Deutschen in konfrontativer Darstellung (Linguistische Studien des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR, Reihe A 85), 162 S.

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Lötzsch, Ronald (1976): "Einige spezifische Besonderheiten der Entwicklung der makedonischen Literatursprache". In: Zur literatursprachlichen Entwicklung bei den Völkern Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge zur Balkanlinguistik I. (Linguistische Studien des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR, Reihe A (Arbeitsberichte) 33, Berlin, 94-103.

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S (1999): "Was ist ein Volk und was eine Nation". In: UTOPIE kreativ 103/104 (Mai/Juni 1999), 15-30.

Trautmann, Reinhold (1948): Die slawischen Völker und Sprachen. Leipzig: Otto Harrassowitz, 173 S.

Zum prinzipiellen Unterschied zwischen den Begriffen Wort und Lexem s. Lötzsch (1997a) (Abstract in: Interlinguistische Informationen Nr. 22, S. 5f.)

Zur Etymologie s. Ekbo (1992: 93-96).

Hierzu s. die entsprechende Stelle bei Trautmann (1948: 133).

Daß der Name eines Volkes und des von diesem dominierten Staates gleich lauten und Unterschiede lediglich in der Flexion bestehen, kommt auch andernorts vor, und zwar bis zum heutigen Tage. Im Deutschen beispielsweise gilt dies für die Bezeichnung Polens und der Polen oder Ungarns und der Ungarn. Im Polnischen findet dieser Typ eine Entsprechung in Niemcy `Deutschland' oder `die Deutschen', morphologisch differenziert im Lokativ o Niemcach `über die Deutschen', aber w Niemczech `in Deutschland'.

Hinsichtlich der sorbischen Ethnogenese s. Lötzsch (1998: 29-43).

Diese Auffassung entspricht nicht der seit Jahrzehnten in der Germanistik vorherrschenden Lehrmeinung, wie sie sich selbst in Lexika und etymologischen Wörterbüchern niederschlägt. Diese besagt, das erstmals 786 in der latinisierten Form theodiscus bezeugte Adjektiv bedeute `volkssprachlich' und sei von in der Umgebung Karls des Großen wirkenden lateinisch schreibenden Gelehrten von der germanischen Wurzel þeud- `Volk-' gebildet worden, um die im Frankenreich vom Volk gesprochenen germanischen Idiome im Unterschied zum Latein der Gelehrten zu bezeichnen. Die Verfechter dieser Auffassung übersehen dabei, daß es ein Suffix -isc- im Lateinischen nicht gibt. Die Autoren der Texte, in denen theodiscus vorkommt, müssen also das germanische Adjektiv þeudisk aus der Volkssprache gekannt haben. Bei der Übernahme ins Lateinische brauchten sie es lediglich in die ihnen vertraute Orthographie zu transkribieren und mit den lateinischen Endungen zu versehen.

Als der polnisch-litauische Reichstag 1596 in Lublin die völlige Vereinigung der beiden bis dahin lediglich durch Personalunion verbundenen Länder beschloß, wurden die Wojewodschaften Wolhynien, Kiew und Podlachien direkt an die Krone abgetreten, während der nördliche Teil des eroberten Gebietes mit vorwiegend ostslawischer, orthodoxer Bevölkerung unter litauischer Verwaltung verblieb. Die Herkunft der Bezeichnung Belorus' für diesen Landesteil sowie des davon abgeleiteten Ethnonyms belorusy (Singular belorus) ist umstritten.

Prominentester Verfechter war der 1874 in dem Dorf Postol im heute zu Griechenland gehörenden Teil Makedoniens geborene Krste P. Misirkov. Im Jahre 1903 erschien in Sofia sein Buch Za makedonckite raboti (Über makedonische Angelegenheiten), in dem er u. a. die Schaffung einer eigenständigen makedonischen Standardsprache forderte. In dem ihm als deren Grundlage vorschwebenden Idiom ist sein Buch auch verfaßt.

Ausführlicher in Lötzsch (1976: 94-103).

Ich gebe hier nur den Singular an und folge trotz der Großschreibung des Plena Ilustrita Vortaro de Esperanto, hrsg. von Gaston Waringhien, Paris 1981: SAT (im weiteren: PIV) und anderer Wörterbücher jenen Autoren, die Ethnonyme klein schreiben.

Vgl. Blanke (1981).

Man vergleiche z. B. die russischen Bezeichnungen für Finnland, Island und die Niederlande: Finljandija (mit palatalem l), Islandija (mit nichtpalatalem l), niderlandy mit nichtpalatalem l und ohne das Suffix -ij-).

So wurde das als deutsches Äquivalent mögliche Kompositum Sowjetmensch ebenfalls weitgehend vermieden. Da das Fehlen einer handlicheren Vokabel angesichts der engen Beziehungen zwischen DDR und UdSSR als Manko empfunden wurde, kam die Ableitung Sowjetnik (Plural Sowjets) auf, deren Verbreitung allerdings durch eine leicht pejorative Konnotation, die selbst dem Euphemismus "die Freunde" noch anhaftete, Grenzen gesetzt waren.

Wie hartnäckig die zentralstaatliche Borniertheit noch immer ist, geht aus einem Protest des französischen Botschafters in der BRD hervor, den die Süddeutsche Zeitung am 8. Juli 1996 abdrucken mußte. Die Zeitung hatte in einem Artikel über geplante Änderungen der deutschen Orthographie Frankreich zu den Ländern mit deutschen Minderheiten gezählt. Die Entgegnung Seiner Exzellenz: "Gestatten Sie mir, gegen diese schockierende Behauptung zu protestieren, die an die schlimmsten Zeiten der Geschichte unserer beiden Länder erinnert. Es gibt nämlich keine `Minderheiten' und noch weniger `deutsche Minderheiten' in Frankreich; allerdings spricht ein Teil der französischen Bevölkerung im Osten des Landes einen deutschen Dialekt."

Absatz (1) von Art. 116 des Grundgesetzes beginnt mit der Formulierung: "Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelungen, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt..."

Ausführlicher hierzu Lötzsch (1997b: 345-351)

Ausführlicher hierzu Lötzsch (1999: 15-30)

Zehn Jahre später, unmittelbar vor dem blutigen Zerfall Jugoslawiens, betrug dieser Anteil mit 710 394 nur noch 3%.

Die auf dem Sypmposium gehaltenen Vorträge sind veröffentlicht in: Wolfgang W. Moelleken und Peter J. Weber (eds.), Neue Forschungsarbeiten zur Kontaktlinguistik, Dümmler Bonn 1997; darin auch Verf., Sprachpolitik in supranationalen politischen Gebilden, S. 339-347.